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© Ayumi Rahn | ayumi-rahn.de

ABOUT

New Orleans

Because
your shoes are on your feet and your feet are on the street and this street is Bourbon Street.

overheard

The past is never dead. It‘s not even past.
William Faulkner

Wir haben die Jalousien einen spaltbreit geöffnet und schauen nach draußen. Ungefähr Schulterhöhe Straße. Draußen parkt ein Auto. Ein Mann wankt um die Motorhaube herum, steht mit dem Rücken zu uns vor der Fahrertür. Schwankt. Holt umständlich seinen Schwanz heraus und pisst, mit dem linken Arm am Autodach gestützt, an die geschlossene Fahrertür. Er steckt den Schwanz wieder ein, holt seinen Autoschlüssel heraus, schließt die Autotür auf und lässt sich fallen in den Fahrersitz. Die Tür geöffnet, die Füße stehen auf der Straße, ist er schon längst weggepennt und an einem anderen Ort, der Mund weit offen, vollkommen zugedröhnt.

Im Zimmer läuft die Klimaanlage und zusätzlich an der Decke ein großer Ventilator, ein Meter Durchmesser sicherlich. Intuitiv ahnt man, dass hier jeder Raum, jede noch so kleine Kammer, mit mindestens einem solchen Ding ausgestattet ist. Hier, das ist der Süden, dieser Süden, heiß und feucht, und anders, dass man seine Zweifel hat, dass das hier auch zu den USA gehört, zu den Vereinigten Staaten, zu denen New York gehört, Los Angeles, Chicago, Albuquerque. Zu denen Donald Trump gehört, aber auch Barack und Michelle Obama. Und der Mississippi River. Dessen Name kam mir immer vor, wie aus einem Märchen. Gibt es den Mississippi River wirklich wirklich? Oder gibt es ihn gar nicht wirklich? Würde man mir erklären, der Mississippi River sei in Wirklichkeit erfunden worden wie Dornröschen, und nur zu dem Zweck, eine Geschichte zu erzählen, eine lehrreiche Geschichte, und in diesem Fall eine Geschichte von außerordentlicher Dimension, ich würde nicht daran zweifeln. Es gibt ihn gar nicht wirklich, den Mississippi River. Nur ein Wort, gerade erst ausgedacht. Eine Bestätigung, dass man nichts weiß und nichts versteht, weil man sicher nicht nah genug herangekommen ist und herankommen wird, und niemals alles fassen kann. So irgendwie.
Hier also rotieren die überdimensionalen Ventilatoren.

Die hängen auch in den dunklen und lauten Spelunken in der Bourbon Street, voller Musik. Und parallel zur Bourbon Street, nur ein paar wenige Straßen weiter, ist der Moon Walk, die Promenade am Mississippi.
New Orleans. New Aaaw-lenz, ist eine Hafenstadt, und die Bourbon Street ist vielleicht so eine Art Große Freiheit, das kam mir so vor. Die Dimension ist eine andere.
Betrunkene, Feierlaune und Touristen. Aus dem Nichts quatschen uns Touristen an, auf deutsch: In der soundso Bar, da gibt es übrigens den besten Irish Coffee, da gehen sie jetzt noch einmal hin. Und, ja sicherlich, eine Plantation Tour haben sie auch gemacht. Gehört alles dazu. Schließlich sind sie nun auch schon ein paar Tage da, nun kennt man sich schon langsam aus. Bourbon Street. Mississippi River. Moon Walk.

Moon Walk. Hier lässt man an Mardi Gras, dem Faschingsdienstag, die Asche Verstorbener zu Wasser, vermischt mit Glitzer. Während sich die Asche unmittelbar im Fluss verliert, sieht man den Glitzer noch eine Weile an der Wasseroberfläche treiben. A new birth of sorts.
Mitte Juni sitzen wir auf den Treppen und schauen auf das Wasser des Mississippi Rivers zu unseren Füßen. Ein paar hundert Meter weiter pfeift ein Dampfschiff aus vollem Dampfkessel eine schunkelnd heisere Melodie, während Touristen für die Abendrundfahrt Schlange stehen.
Breite Treppen führen hinab zum Fluss, der schwappt ihnen mit schweren Wellen entgegen. So schwerfällig, eher wie ein Meer, so ein großer Fluss. Aber da drüben, siehst du das, da schwappt doch ein Körper mit, hin und her, gegen das Geröll am Flussrand. So träge, fast genussvoll und ganz ohne jede Weigerung, hin und her, mit den Wellen, wie es nur ein lebloser Körper kann. Ein relativ großer toter Körper, schwipp, schwapp. Ist das etwa eine tote Robbe? Aber wie kommt denn eine tote Robbe hier hin?

Eine Attraktion ist es in den Swamp zu fahren. Dass New Orleans erbaut werden muss, stand von Anfang an fest. Daran führte nichts vorbei. An die Mündung eines so großen Flusses, an den Eingang eines so großen Landes, gehört eine große Stadt, eine wichtige Stadt, sagen wir, eine Metropole. Tatsache, zweifelsohne. Im Fall von New Orleans gab es keinen Zweifel. Zunächst musste nur Sumpf zu Land gemacht werden, was man nicht alles macht. Das Sumpfgebiet wird entwässert, dann die Stadt darauf erbaut.
Noch immer und ununterbrochen pumpen riesige Pumpen unermüdlich Wasser aus den Sümpfen, auf denen nun die Stadt steht. Sonst würde alles in Nullkommanichts und im wahrsten Sinn des Wortes versumpfen, sich mit Wasser vollsaugen wie ein Schwamm. Was für eine Leistung.
Sumpflandschaft funktioniert als eine natürliche Bremse für Hurrikans. Wenn sie über Sumpfgebiet fegen, verlieren sie an Wucht. Fehlt der Sumpf, keine Bremse.

2005. Das lower von Lower Ninth Ward, einem Stadtteil von New Orleans, ist das gleiche lower wie etwa von Lower Manhattan, im Gegensatz zu Upper Manhattan. Es wird häufig missinterpretiert, dass der Lower Ninth Ward etwa noch tiefer unter Sea-level liegt als übrige Teile der Stadt, jedoch bezeichnet er lediglich die Gegend südlich des Ninth Ward.
Der Lower Ninth Ward ist von den Verwüstungen in Folge des Hurrikan Katrina 2005 mit am schlimmsten betroffen. Warum? Gegen verschiedene Gefahren– wie die mangelnde Sumpfbremse oder die gefährliche Nähe zum Mississippi River Gulf Outlet MRGO, der als Abkürzung für die Schifffahrt mehr schlecht als recht gebaut wurde, da er wie ein großer Trichter Stürme in die Stadt hinein leitet– gegen diese Gefahren, sollte ein Damm schützen. Amsterdam, das wie New Orleans unter Sea-level liegt, ist durch einen Damm vor Überflutung gesichert. Was aber nützt ein Damm, wenn er auf Schlamm steht? Gegen mehrfaches, serielles, ingenieurtechnisches Versagen hilft am Ende gar nichts mehr.
2005, in Folge des Hurrikans Katrina, bricht der Damm an mehreren Stellen. Anstatt 17 Meter tief wie es erforderlich gewesen wäre, war er kaum im Boden verankert. Er wird unterspült und weggeschwemmt. Pfusch am Bau. Zwischen 1100 und 1800 Menschen sterben 2005 in New Orleans in Folge von Katrina. Über die Anzahl der Toten ist man sich bis heute uneinig.

Viel läuft schief 2005, wenn nicht alles. Um die 20 000 Menschen, die sich vor dem Sturm im Super Dome in Sicherheit bringen, warten unter unmenschlichen Bedingungen auf Hilfe. Es kommt keine. Sie warten rund eine Woche. Letztendlich kommen Busse, in die sie gesetzt werden, und die sie irgendwohin bringen. Was konkret bedeutet: die Menschen im Bus haben keine Ahnung, wohin der Bus sie fährt. Baton Rouge, Atlanta, Dallas, Denver, New York? Die Einwohner von New Orleans, US-amerikanische Staatsbürger, werden als sogenannte Flüchtlinge quer über das Land verteilt, Familien auseinandergerissen.
Und wie sollten sie nach Hause zurückkehren? Wann? Was für ein zu Hause eigentlich? Steht das Haus noch? Die Versicherungen weigern sich zu zahlen. Die gravierendsten Schäden sind nun mal keine Sturmschäden, sondern Schäden durch Überschwemmung. Dafür kommt die Hurrikan Versicherung nicht auf, das liegt außerhalb ihrer Zuständigkeit.
Bald steht es zur Diskussion, die am stärksten betroffenen Gebiete, in denen eine vor allem schwarze Bevölkerung lebt, abzureißen. In Sumpflandschaft zurück zu verwandeln. Oder in Erholungsorte. Ein Stadtpark? Zu Förderung der Gesundheit? Und immer wieder das Missverständnis: „Der Lower Ninth Ward liegt doch so niedrig, quasi ja noch niedriger als der Rest der Stadt, da sei es doch nur vernünftig, den nicht wieder aufzubauen. Die Bewohner wären anderswo womöglich besser aufgehoben.“
In dem Chaos, das noch einige Jahre andauert, sehen verschiedene, vornehmlich weiße, Interessengruppen ihre Chance, an Einfluss zu gewinnen und die Rückkehr der als Flüchtlinge über das Land verstreuten Bevölkerung zu verhindern. So werden Häuser abgerissen, auch Häuser, die keine gravierenden Schäden davongetragen haben. Folgende These wird aufgestellt: „Vielleicht hat Gott den Sturm für New Orleans herbeigerufen, so dass die Stadt wieder auferstehe, jedoch in Weiß.“
Mieter von Sozialwohnungen im Innenstadtbereich werden von ihren Wohnbezirken ausgesperrt, die sogenannten Public Housing Projects von privaten Immobiliengesellschaften abgerissen. Über 99 Prozent der betroffenen Bewohner sind Afroamerikaner, unter ihnen vor allem alleinerziehende Mütter, Menschen mit Behinderung und ältere Menschen.

Die Brücke nach Gretna.
Als die halbe Stadt in Trümmern liegt und unter Wasser steht, unmittelbar nach dem Sturm, zieht eine Gruppe von Menschen durch die zerstörten Straßen, auf Suche nach Unterschlupf, nach Hilfe, wahrscheinlich auch nach Trinkwasser. Es herrscht eine Hitze von fast vierzig Grad. Hier und da treffen sie auf überforderte Polizeibeamte. Hier und da treffen sie auf hilflose Menschen, die sich ihnen anschließen. Gemeinsam einen Weg hinausfinden, aus der zerstörten Stadt, gemeinsam Hilfe finden.
Schließlich wird ihnen gesagt, ihr müsst den Fluss überqueren. Auf der anderen Seite des Mississippi River, dort in Gretna, dort warten Busse, die bringen euch in Sicherheit.
Die Gruppe, es sind hunderte, darunter alte Menschen, Leute im Rollstuhl und Kinder, schleppt sich in der Hitze über den Asphalt der riesigen Autobrücke, der Crescent City Connection. Von weitem sehen sie Polizeibeamte, offensichtlich werden sie erwartet. Als sie in Hörweite sind, hören sie die bewaffneten Polizisten rufen: Bleibt wo ihr seid, keinen Schritt näher, oder wir schießen. Die Menschen meinen, sie hätten sich verhört. Sie kommen näher. Wo sind denn nun die Busse, die uns in Sicherheit bringen? Gibt es Wasser, gegen den Durst in dieser Hitze? Einige von uns halten das nicht länger aus. Kehrt um, oder wir schießen, brüllt die Polizei von Gretna am Mississippi, gegenüber von New Orleans, den Einwohnern von New Orleans entgegen. Dann feuern sie Schüsse in die Luft. Die Gruppe kehrt um: „Wir dachten, die erschießen uns.“
Wir haben für die Sicherheit der Stadt Gretna gehandelt. Wir konnten nicht einfach jeden in unsere Stadt lassen, erklären die Polizisten später. Die Bedrohung war eine Gruppe von Menschen, die aus einer zerstörten Stadt fliehen, zu 95% Schwarze.
‚We‘re not having black people coming into our neighborhood.‘, so verstand es Larry Bradshaw aus der Gruppe der Fliehenden.

Wir machen eine Sumpftour. Der Sumpf wird hier Bayou genannt. Ein kleines Boot, 6 Leute, leiser Motor, wer weiß, vielleicht sehen wir sogar ein Krokodil? Hier wimmelt es von Alligatoren. Treffpunkt ist an einem Truckstopp am Pearl River. Riesige Trucks stehen hier, einer neben dem anderen, 10, vielleicht auch 15. Ein Truck von der Masse von gut eineinhalb europäischen Lastwagen. Und die Hitze, fast vierzig Grad, fast einhundert Prozent Luftfeuchte. Wie soll man überhaupt atmen? Was ist Schweiß, was ist Luftfeuchtigkeit? Alles ist durchnässt. In jeder Kammer rotiert mindestens ein überproportionaler Ventilator. Und die ganze Reihe parkender Trucks lässt die Motoren laufen. Was, warum? Ein Krach, und die Umwelt? Die Fahrer ruhen sich drinnen aus, ohne Klimaanlage wäre das unerträglich.
Der Wasserpegel im Bayou ist niedrig. An den Stämmen der Mangroven kann man unterschiedliche Wasserstände ablesen. In New Orleans hängen überall, von allen Laternenpfählen und Bäumen, die bunten Plastikperlenschnüre. Mardi Gras Beads. Hier hängt von den Ästen das Spanish Moss. Auf Fotos sieht es modrig feucht aus, wie Moos, ist es aber nicht, es ist eher trocken, wie eine Art Flechten. Girlanden.
Im Bayou ist es laut: Zirpen, rascheln, pfeifen. Wahrscheinlich fängt es bald an zu regnen. Die Hurrikan Season hat Anfang Juni begonnen. Immer wieder, hier und da, hinter der nächsten Flussbiegung, sehen wir kleine Hütten auf Stelzen. Manche schwimmen und steigen mit dem Wasser, andere werden wohl bald untergehen, halten nur eine Saison, solange, bis ein Sturm kommt oder das Wasser steigt. Wer hier wohl lebt? Und wie es wohl wäre, die Nacht hier zu verbringen? Was für Geräusche gibt es hier in der Nacht? Die Hütten sind kaum größer als Campingwägen. Tiny Houses. Die meisten haben eine kleine Veranda, mit Schaukelstuhl. Wohl zu viel ferngesehen, fragt man sich. Wohl eher nicht, aber man fragt sich trotzdem.
An der nächsten Flussbiegung eine Sandbank. Spielzeug liegt verstreut im Sand. Was? Ich dachte hier wimmelt es von Alligatoren? Spielen hier Kinder im Sand am Wasser?
Auf dem Wasser, das im Bayou bewegungslos steht, eine Wasseroberfläche wie Quecksilber, sitzen unendlich viele kleine Fliegen. Ganze Staaten von winzigen Fliegen, sitzen mit ihrem Fliegengewicht auf der Wasseroberfläche. Und die Oberfläche ist KEIN BISSCHEN bewegt_____________
Kommen wir näher, entstehen winzige Wellen, die von dem Boot aus den Fliegen entgegen rollen. Da geraten sie in Panik und setzten sich in eine fliehende Bewegung, als ob immer die jeweils hinterste, letzte der Millionen Fliegen an die vorderste Stelle wechselt. Und dann die nächstletzte ganz nach vorne wechselt, und so weiter und so weiter. In einer Geschwindigkeit, dass die Panik einer ausgefeilten Choreografie gleicht, die wir mit unserem Boot in Gang setzen.

Als wir wieder im Auto sitzen, fängt es an zu regnen. Erst regnet es, dann schüttet es. Wie in Wellen peitscht das Wasser über die Windschutzscheibe. Der Scheibenwischer arbeitet in vollem Gang, aber genauso gut könnte man mit ihm durch den Bayou rudern. Bringt nicht viel. Können wir auch ausschalten.
Wir fahren über die Interstate 10, die einige Kilometer lang über Brücken, See und Sumpf führt. Eigentlich ziemlich beeindruckend. Aber, wie gesagt, wir sehen nichts. Würden wir die Interstate 10 bis zum Ende geradeaus fahren, kämen wir an in Los Angeles. Das Wasser peitscht über die Scheiben. Die Straße steht unter Wasser. Was für ein WELTUNTERGANG. Dann hört es wieder auf.
Die Mississippi River Road führt direkt am Mississippi River entlang, den man nicht sieht, weil er sich hinter einem größeren Graswall befindet. Hier lebten vor einiger Zeit die reichsten Einwohner der USA. Ein Plan zeigt es wie im Katasteramt: Streifen an Streifen an Streifen. Plantage an Plantage wurde hier Zuckerrohr angebaut. Ernte und Verarbeitung sind besonders qualvoll, denn die Blätter des Zuckerrohrs sind hart und scharf und schneiden in die Haut wie Rasierklingen.

Ein deutscher Einwanderer namens Ambroise Heidel gründete 1721 die Whitney Plantation. Ihren Namen hat sie von einem späteren Besitzer, der sie nach der Zeit des Sklavenhandels betrieb. Der heutige Besitzer, John Cummings, ein Rechtsanwalt aus New Orleans, schuf aus der Plantage das Freilichtmuseum und die Gedenkstätte, den sogenannten Whitney Plantation Historic District.
In einer kleinen, von freien Sklaven nach dem Bürgerkrieg erbauten, Baptistenkirche sehen wir einen kurzen Einführungsfilm. Um uns herum stehen dutzende lebensgroße Bronzeskulpturen von Kindern, Mädchen und Jungen, in Kleidern und in Latzhosen. Die 40 Skulpturen des Bildhauers Woodrow Nash stellen die Kinder der Whitney dar, Zeugen der Vergangenheit. Auf unseren Eintrittskarten ist jeweils eine der Skulpturen abgebildet. Jeweils eines der Kinder und sein Name. Wir erfahren, es sind survivor. Die Skulpturen sind Porträts, angefertigt nach originalen Fotos.
Die Überlebenden kommen zu Wort, berichten von der Zeit, als sie jemand anderes Eigentum waren. Jede Skulptur ist Abbild eines Menschen, mit eigenem Name und eigener Geschichte. Das berührt. Auf meiner Karte steht der Name „Henry Reed“. Auf der Rückseite ein kurzes Zitat, in dem Henry Reed von seinem Leben auf der Plantage erzählt. Das Kind auf der Vorderseite der Karte ist wohl um die 7 Jahre alt. Zu dem Zeitpunkt, da Henry Reed als freier Mann über die Zeit berichtete, ist er 86. Ein Mensch, der überlebt hat.
Auf einer “Wall of Honor” sind Namen von 2200 Kindern eingraviert, die auf der Whitney und in der angrenzenden Gemeinde zu Tode gekommen sind. Im Durchschnitt überlebte ein erwachsener Mann 7 Jahre Plantagenarbeit. Frauen lebten länger. Frauen waren teurer, wertvoller als gesunde, kräftige Männer, die für die Arbeit aufgebraucht wurden. Aus den Frauen ließ sich neue Arbeitskraft züchten. Zwei Menschen wurden eingesperrt in einen Käfig, solange, bis die Frau schwanger war. Käfige, Gefängnisblöcke aus Metall, in denen es in der Hitze unerträglich heiß gewesen sein muss. Neues Leben, mehr Kapital. Ungeborenes Leben, wertvoller Besitz. Die containergroßen Käfige wurden in Philadelphia gefertigt. Das ganze Land war beteiligt, nicht allein der Süden. Im Süden hat das Schmutzige stattgefunden, das menschenverachtende, menschenvernichtende, das, wo der Rest des Landes lieber weggesehen hat, dafür wohnten hier die meisten Millionäre.

Vor der Zeit des Sklavenhandels war die USA ein untergeordneter Handelspartner der europäischen Großmächte, nach der Zeit des Sklavenhandels eine wirtschaftliche Supermacht.
Auf dem Whitney Plantation Historic District, stehen zu Gedenken der Opfer schwarze Mamorstelen mit eingravierten Namen. Ein Name, nach dem anderen. Namen von Menschen, die hier versklavt lebten. Bodies, die allein dazu dienten, das Kapital des Eigentümers zu vermehren. Je nach Gesundheit, Geschlecht und Arbeitskraft, Gebärfähigkeit, Zeugungkraft, wertvoll oder wertlos. Ein Marmorblock wurde leer gelassen. Er steht für all jene, die namenlos geblieben sind. Eine große, leere Fläche.
Irgendwo auf dem Gelände hängt der Gong, der Beginn und Ende der täglichen Sklavenarbeit markierte. Eine Messingscheibe mit einem schweren Klöppel. Wir werden eingeladen, ihn zu schlagen und dürfen dabei den Opfern gedenken, denen, die hier umgekommen sind, und denen, die überlebten. Er schlägt schwer und dunkel und hallt lange nach. Es ist heiß und feucht, und vor allem ist es still. Es ist intensiv. Obschon wir Verstörendes erwartet haben, ringen wir immer wieder um Fassung.
Es fängt wieder an zu regnen. Unser Guide Ali sagt eindringlich, es ist wichtig, dass wir das weitererzählen. Wir alle spüren, dass es ihm am Herzen liegt, und dass er recht hat. Es ist nicht vorbei. The half has never been told. Er sagt es laut: Sklaverei und Unterdrückung sind nicht vergangen, es ist nicht vorbei. In keinem Land der Erde sitzen so viele Einwohner im Gefängnis wie in den USA. 25% der weltweit inhaftierten Menschen sitzen in einem US-amerikanischen Gefängnis. Während bei US-Bürgern weißer Hautfarbe 478 Gefängnisinsassen auf 100.000 Personen kommen, beläuft sich diese Zahl bei Bürgern schwarzer Hautfarbe auf 3.023.
Von gut 35 000 Museen in den USA ist der Whitney Plantation Historic District das einzige, das sich ausschließlich mit der Geschichte der versklavten Plantagenbewohner befasst.

Der Jean Lafitte National Historical Park and Preserve liegt südlich von New Orleans. Auf Planken kann man mitten durch den Sumpf wandern und ihn erkunden. Wir sehen Schwärme von Libellen, riesengroße Heuschrecken und zwei Alligatoren. Später kommen wir mit einem Ranger ins Gespräch, der von einem Alligatorennest erzählt, das hier gerade irgendwo von einer Alligatorenmutter bewacht wird. Ja nicht zu nahe hingehen. Ein kleiner Mann, der Steve Buscemi verblüffend ähnlich sieht.
Unvermittelt, wahrscheinlich weil wir aus Deutschland sind, fängt er an zu erzählen: Seine Vorfahren sind aus Europa gekommen. Seine Vorfahren ließen sich im Norden der USA nieder. Seine Vorfahren haben Ureinwohner weder vertrieben noch ermordet, wohl aber haben sie davon profitiert, dass es andere taten. Als Schiffe tonnenweise Baumwolle von den Plantagen den Mississippi hinauf in den Norden brachten, konnten Passagiere nahezu gratis auf den leeren Schiffen hinunter in den Süden reisen, so zogen seine Vorfahren weiter. Er sagt: Meine Vorfahren haben nie mit Sklaven gehandelt, noch haben sie Sklaven gehalten, aber wieder: sie haben davon profitiert, dass es andere taten. Wovon profitieren wir?

Zu guter Letzt möchten wir uns eine zweite Plantage ansehen. Ich sage: Weißt du, natürlich ist es amerikanisch, wie hier die Vergangenheit aufgearbeitet wird. Aber immerhin wird sie aufgearbeitet, und aus der Sicht der Opfer und der Überlebenden, das finde ich gut, ich hatte keine Ahnung und habe eine Menge gelernt.
Auf TripAdvisor wird die Laura Plantation empfohlen. Fünf Sterne, die beste Plantage ever: „Tauchen Sie ein in die Geschichte.“ Der Besucher betritt die Laura Plantation durch den Giftshop. Das Marketing funktioniert, das ist offensichtlich. Duschgel, Kekse, Flaschenöffner, Handtücher, Mitbringsel aller Art, die meisten mit dem Konterfei von Laura, die hier als junge Frau lebte, jüngster Spross einer Plantagenbesitzerdynastie. Eine emanzipierte Frau, die die Plantage bald verließ, um in einer Großstadt zu leben. Irgendwann verfasste sie ihre Erinnerungen an die Plantage. Dass da nicht alles gut war, versteht sich von selbst.
Wir sind eine große Gruppe, US-Amerikaner aus dem ganzen Land, sie freuen sich, eine richtige Plantage zu sehen. Südstaatenherrlichkeit, Fackeln im Sturm. Wenigstens ein Selfie vor den alten Eichen, die sind zwar wesentlich jünger als die Plantage selbst, aber das ist egal: Das Herrenhaus ist eine Pracht. Unser Guide quetscht sich ihre PET Wasserflasche in die Gesäßtasche und stellt sich uns als „Katie“ vor: „You know whenever you have a question...“ Sie reißt die Augen auf und erzählt Geschichten vom Plantagenleben: „Manchmal, wenn ein Sklave etwas falsch gemacht hat, wurde er: einfach so erschossen. Und niemand wurde des Mordes bestraft, denn: Ein Sklavenleben war nicht viel wert…“
Im Keller des Hauses sehen wir lebensgroße Pappaufsteller der Plantagenbesitzer. Es war die größte Plantage in der Gegend, so lebten master Hinz und seine angetraute Frau Kunz wie König und Königin. Natürlich fiel auch einiges an Arbeit an, selbstverständlich bei einer so großen Plantage– „Hey Katie!!!“ ruft es aus der Gruppe, „Sag mal, der Tisch hier, ist der original und aus der Zeit?“ Nein, of course not, das haben wir zusammengekauft, unwichtig. Aber hier haben wir Bananenbäume angepflanzt: Die gedeihen prächtig in unserem heißen und feuchten Louisiana Klima, „come on and check it out! Sehen wir uns nun die Küche an, die Kochbaracke, hier bereiteten die Sklaven ihre vielen köstlichen Rezepte zu, die sie aus ihrer alten Heimat- Afrika- zu uns brachten: Jambalaya, Gumbo– aufgepasst: Jeden Pflasterstein, auf dem wir hier stehen, jeden einzelnen Ziegelstein, haben die Sklaven mit ihren Händen angefertigt, Stein für Stein. Aus dem MUD, den sie geholt haben, aus dem: MISSISSIPPI RIVER...“ I mean…whaat?
Auf TripAdvisor wird die Laura Plantation geliebt: Wenn man schon immer mal eine bedeutende Zuckerrübenplantage sehen wollte, hier soll man hin. Gone with the wind.
Wir warten, bis die Gruppe in der nachgebauten Küchenbaracke verschwunden ist. Dann laufen wir, über die Plantage, durch den Hinterausgang und atmen auf, als wir im Auto sitzen.

Die Serie NOLA (New Orleans) ist in diesem Heft abgebildet. Wasserfarbe auf Papier, immer zuerst die Rückseite, dann die Vorderseite. Es sind alles Perlen, Wasser, Wasser wie Quecksilber, Mücken auf der Wasseroberfläche, der Bayou, Hütten auf Stelzen, mit Veranda und Schaukelstuhl, Mardi Gras Beads, mud, mold, Spanish Moss, Ventilatoren, Trucks mit laufenden Motoren, Hitze, Sumpf, eine Stadt, auf Sumpf gebaut, ein Damm, auf Schlamm gestellt, Regengüsse, Stürme, zerstörte Häuser, abgerissene Wohnblöcke, der Mississippi River, entlang dessen die Millionäre lebten.

Ayumi Rahn, 2018