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Das Gegenteil [ich schaue die ganze Zeit aus dem Fenster]

(Interview)

Was ist denn mit Ihnen los?
Nichts, eigentlich.
Angenommen das stimmt, und es ist wirklich nichts mit Ihnen los: Was wäre das Gegenteil davon?
Gehen Sie davon aus, dass alles ein Gegenteil hat?
Ich nicht, aber Sie. Es wäre sonst unsinnig zu behaupten, dass nichts los ist.
Gut. Das Gegenteil wäre, dass etwas los ist.
Was könnte das Etwas sein?
Was sollte denn das Etwas sein?
Das habe ich Sie zuerst gefragt.
Müsste das Etwas nicht alles sein, wenn es das Gegenteil von Nichts ist?
„Nicht alles“?
Nein: alles!
Das führt doch zu nichts.
Aber interessant ist es. Wenn alles zu Nichts führt, führt anscheinend Nichts zu allem - zumindest besteht die Möglichkeit.
Dann frage ich Sie: Was ist das Gegenteil von anscheinend?
Scheinbar, möglicherweise, könnte das sein?
Ich denke nicht.
Wirklich?
Schon eher.
Ich denke, das Gegenteil von anscheinend ist, dass man es weglässt. Das Gegenteil von „er ging anscheinend weg“ ist: „Er ging weg“. Denn „ginge er wirklich weg“, wäre das wirklich was anderes.
Interessant.
Gegenteil?
Belanglos?
Interessant wäre eigentlich das Gegenteil von eigentlich.
Generell?
Ach so?
Eigentlich nicht.
Was anderes: Wenn es hier nicht so laut wäre, könnte ich mich besser konzentrieren.
Gegenteil?
Wenn es hier nicht so leise wäre, könnte ich mich besser ablenken, wenn es hier nicht leise wäre, könnte ich mich schlechter konzentrieren, oder: Ich könnte Sie ablenken, wenn es dort nicht so laut wäre?
Aber warum ist es so laut? Hätten Sie keine ruhige Umgebung finden können für unser Gespräch?
Ich wusste doch nicht, dass es hier so laut ist.
Das ist ebenfalls interessant, warum nicht? Kartenspieler sind immer laut.
So?
Und ich ertrage die Geste nicht, mit der sie ihre Karte in die Tischmitte abspielen. Sie widert mich an.
Gegenteil?
Sie macht mich an.
Gegenteil?
Sie turnt mich ab.
Warum?
Sie stört mich. Sie ist so aufgesetzt. Warum legen sie ihre Karte nicht einfach hin, wie andere die Untersetzer hinlegen, den Tisch decken, das Brot belegen. Immerzu dieses Gehabe, ich mag das nicht. Immerzu kommentieren sie alles. Diesen Kommentierwahn haben nur die Kartenspieler. Das macht mich wahnsinnig.
Gegenteil?
Vernünftig.
Von kommentieren?
Es so stehen lassen?
Sie sollen es besser so stehen lassen, die Kartenspieler?
Sie sollen einfach die Klappe halten.
Eine laute Umgebung macht Sie aggressiv?
Sanft.
Von Umgebung?
Ferne - oder Inneres, je nachdem.
Das ist aber interessant.
Ein Paradoxon eben.
Großartig! Verraten Sie mir bitte: Wo möchten Sie sich lieber befinden?
Wenn Sie ein Mal gründlich überlegen, so werden Sie feststellen, es ist nicht möglich, sich in der Umgebung aufzuhalten. Diese ist per definitionem stets um einen herum. Und um das Innere ist man ja selbst immer drum herum.
Drum herum?
Genau.
Das klingt gut. Hunger?
Ein wenig.
Gegenteil?
Ziemlich.
Von Hunger?
Sättigung?
Haben Sie genug Sättigung?
Das wird mir langsam zu blöd.
Gegenteil?
Klug. Das wird mir schnell zu klug - lassen Sie uns das Gespräch beenden.
Gegenteil?
Schweigen. Beginnen -
Dann erzählen Sie bitte etwas Kluges zum Abschluss.
In Ordnung. Ich fahre mit dem Zug. Ich sitze am Fenster entgegen der Fahrtrichtung. Ich stelle mir vor, dass es sich so mit der Lebenszeit verhält. Aus dem Fenster sehe ich gegen die Fahrtrichtung weit zurück in die Vergangenheit, währenddessen ich rücklings in die Zukunft rase, blind. Dann richte ich meinen Blick aus dem Fenster starr auf die Erde, das ist die Gegenwart. Bei zweihundert Kilometer in der Stunde bleibt nicht viel, Streifen. Ich schaue die ganze Zeit aus dem Fenster.
Es liegt Schnee. Über Felder weit, versunken, glatt, weiß. Dann ist der Schnee verschwunden. Das Gras grünbraun. Wald, Häuser, wieder Wald. Und wieder Häuser und Wald, Felder, Straßen und Häuser. Alles wie erwartet.
Da, auf ein Mal liegt ein Mensch mitten auf einem Feld. Auf braungrünem Rasen, im Matsch, alleine. Schon wieder weit weg, verschwunden hinter Wäldern und wieder Wäldern, Feldern, Häusern. Verrückt.
Ich lausche aufmerksam durch mich hindurch, hinter mich, hinein in den Zug. Reagiert jemand? Hat jemand das auch gesehen? Den liegenden Menschen auf dem Feld bemerkt? War das nicht ungewöhnlich? Das Zuginnere reagiert nicht.
Ist es an mir, etwas zu unternehmen? Aufzustehen, um Hilfe zu rufen? Ich schaue weiter aus dem Fenster, und es kommt mir vor, als hätte ich mir alles eingebildet, ich bilde mir recht viel ein.
Ich habe einmal einen Menschen beobachtet, der sich langsam niederlegt auf den Boden, auf den Asphalt irgendeiner Straßenecke. Er streckt Arme und Beine weit von sich und blickt tief in den Himmel hinauf. Ganz ruhig, fast friedlich. Es ist ein erster Frühlingstag. Der Himmel voller kleiner weißer Wolken. Da hat ihn ein Fahrradfahrer um ein Haar überfahren. Er bremst scharf und hält drei Zentimeter vor seinem Kopf, er springt vom Rad und bückt sich, kniet sich nieder. Alles lautlos, innerhalb von drei Sekunden.
Habe ich etwas missverstanden? Niemand reagiert im Zuginneren und ich schaue weiter nach draußen, auf die Landschaft. Und ich schaue weiter aus dem Fenster. Und ich denke mir, vielleicht ist es einfach genau so im Leben und mit der Vergangenheit.