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Etwas Schlimmes

(Interview)


In Ordnung. Vielleicht berichten Sie einmal ganz in Ruhe und der Reihe nach, was an jenem Tag vorgefallen ist.
Gut. Wir sind aufgestanden und haben gemeinsam gefrühstückt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keinerlei Vorgefühl. Alles war völlig normal. Wir haben einen zweiten Kaffee getrunken, dann habe ich meine E-Mails gecheckt.
Wir standen nicht unter Zeitdruck, alles war völlig entspannt, und wir haben das genossen.
Gegen Mittag haben Sie sich auf den Weg gemacht?
Genau.
Zu diesem Fest.
Zu diesem Fest, genau. Als wir aus dem Haus gingen, in dem Augenblick als wir das Haus verließen, überkam mich ein stechendes Gefühl. Eine Art Schauer. Die Luft war anders. Irgendetwas lag in der Luft. Etwas Schlimmes. Im Nachhinein ist das einfach zu deuten, aber ich hatte keinerlei Ahnung. Es war einfach ein Schauer, ein kurzes Gefühl, das ich gleich wieder verworfen habe.
Ich habe nicht weiter daran gedacht.
Sie sind zu diesem Fest gefahren.
Genau. Wir haben die U-Bahn genommen. Es war recht viel los, aber darüber habe ich mich nicht gewundert. Das war auch nicht weiter verwunderlich. Ich glaube nicht, dass das etwas zu bedeuten hatte.
Wann ist Ihnen tatsächlich bewusst geworden, dass etwas Schlimmes bevorsteht, dass sich etwas anbahnt.
Das wurde mir nach und nach bewusst. Nicht auf einen Schlag.
Können Sie das rekonstruieren? Könnten Sie das versuchen?
Nun, dieses Fest, das war keine große Veranstaltung, eher eine mittelgroße Veranstaltung. Vergliche man es mit einer wirklich großen Veranstaltung, käme man womöglich zu dem Schluss, dass es sich um eine kleine Veranstaltung handelte. Eigentlich hatten wir nicht vor, dort hinzugehen. Aber gut, da waren wir und schlenderten herum, wie man das macht.
Da waren Buden und Stände, wie das so ist, und einige Menschen. Eine Band spielte alte Schlager. Nichts Außerordentliches, sehr überschaubar, und wir begegneten dem einen und dem anderen, der uns bekannt war und uns kannte, wenn auch nur flüchtig.
Da fiel es mir bald auf, und ich wunderte mich und immer mehr: Die sahen merkwürdig aus. Absonderlich im Vergleich damit, wie wir sie in unserer Erinnerung hielten. Ich meine, eine Erinnerung ist kein Gedächtnis aber immerhin für solche Zwecke doch verlässlich, meinen Sie nicht?
Inwiefern erschienen Ihnen die Personen absonderlich?
Sie schienen sonderbar verschoben. Das sah man am deutlichsten an ihren Gesichtern. Spätestens, wenn sich ein Gesicht für uns öffnete, sobald wir stehen blieben für eine Plauderei, da wurde es uns mit Schrecken bewusst. Es war alles verschoben.
Was meinen Sie mit verschoben, können Sie das näher beschreiben?
Grässlich verschoben, die Gesichter. Die Haut über den Knochen, die Zähne, ja sogar die Augen. Der Blick. Alles, was sie sagten. Alle Wörter, alle Glieder. Alles war verschoben.
Da wurde es Ihnen bewusst?
Da war es mir bewusst, dass alles falsch war und auf etwas Schlimmes hinauslaufen würde. Etwas Furchtbares würde geschehen.
Darauf schlossen dadurch, dass alles verschoben war, sagen Sie?
Genau. Es konnte nichts Gutes bedeuten, dass mit einem Mal alles verschoben war.
Aber Sie ahnten nicht, was konkret passieren würde.
Nein, nicht direkt. Aber, wir müssen uns in Sicherheit bringen, das wussten wir.
Sie haben sich also in Sicherheit gebracht?
Das war nicht leicht. Durch die Verschiebungen wurden wir verwickelt in Blicke und Gespräche. Die verschobenen Gebisse drehten sich aus den Mündern und verhakten sich starrsinnig in den Gesprächen, die Blicke schoben sich verbissen an den Augenhöhlen vorbei und kniffen uns in die Ohren. Worte wurden zu Knoten. Näheres möchte ich Ihnen ersparen.
Wie konnten Sie den Blicken entkommen?
Wir mochten uns nichts anmerken lassen. Doch sobald sich zwischen den Verschiebungen ein kleiner Raum öffnete, schlüpften wir stillschweigend hinein und besprachen uns kurz in unseren eigenen Worten. So erörterten wir, wohin wir uns in Sicherheit begeben könnten.
Wie ungefähr verliefen diese Überlegungen?
Nun, wir wussten, wir sollten auf alle Fälle zusammenbleiben. Sollen wir uns zurückziehen in unsere Wohnung, haben wir uns gefragt. Das wäre eine Möglichkeit gewesen. Wir hätten uns auch in das Studio flüchten können, das wäre nur gut zu verrammeln gewesen. Doch lag die Toilette außerhalb und waren die Fenster marode. So entschieden wir uns dagegen, und dieser Entschluss war letzten Endes lebensrettend, ein Glück.
Wie es der Zufall wollte, waren wir zum Abend bei Freunden verabredet und beschlossen nach sorgfältigem Hin und Her, die Verabredung zu halten.
Wir riefen sie an, wir kämen früher, sei das in Ordnung.
Und?
Das war in Ordnung.
Wie ging es weiter?
Etwas sei nicht in Ordnung, erwähnten wir am Telefon nur kurz, denn für eine Konsultation fehlte der Platz. Inzwischen hatte sich alles verschoben, auch die Buden und die Stände, so dass es sich schwierig gestaltete, an ihnen vorbei und hinauszugelangen. Die Kapelle hatte ihre Musik verschoben und begleitete alles mit einem schrecklichen Lärm.
Ein Hang tat sich auf, den rutschten wir hinab. Auf dem halben Weg noch verwickelte man uns in ein Gespräch, aus dem wir uns mit Mühe und Not entwanden.
Von dem letzten Hangstück aus schlitterten wir direkt hinein in die abfahrende U-Bahn. Wir waren erleichtert, doch auch mit der U-Bahn stimmte einiges nicht. Zwar fuhr sie ein gutes Stück, doch in die falsche Richtung. So liefen wir eine weite Strecke zu Fuß und erreichten die Freunde im Dunkeln.
Auf unserem halben Weg bemerkten wir mit Schrecken: Straßen und Steige waren wie leer gefegt. Vereinzelt huschten Gestalten vorbei, hier und da stellten wir deutliche Verschiebungen fest in ihren einzigen Gesichtern.
Wie konnten Sie davon ausgehen, dass Sie Ihre Freunde unverschoben würden vorfinden können?
Davon gingen wir aus, wir hatten keine andere Wahl.
Was dann?
Als wir das Haus der Freunde erreichten, waren wir erschöpft. Wir wussten, dass wir nicht wissen, wie lange wir uns verrammeln müssen. Wann mit dem Ende des Schreckens zu rechnen sei, das wussten wir nicht.
Das muss ein schlimmes Gefühl gewesen sein.
Es war ein schlimmes Gefühl. Doch wir fanden keinen Raum, uns weiter damit auseinanderzusetzen. So erklärten wir es unseren Freunden in sanften Worten. Wir verblüfften sie, aber sie verstanden uns sofort.
Ihre Freunde ahnten zu dem Zeitpunkt noch nichts?
Nein. Zwar erschien Ihnen die Situation gespenstig, doch erwarteten sie nicht das Schlimmste. Man glaubt eben selbst dann noch gerne an einen Irrtum, wenn man keinen mehr übrig hat, zwischen seinen vernünftigen Fingern.
Also gut. Und dann?
In der Wohnung prüften wir die Schlösser und überzeugten uns von den Verriegelungsmöglichkeiten. Die Wohnung liegt im 5. Stock und hat keinen Balkon. Das erschien uns beruhigend. Wir verklebten die Schlitze.
Lasst uns etwas zu trinken kaufen, sagten wir uns, wer weiß, wie lange wir in der Wohnung verharren werden.
Sie haben also Getränke gekauft?
Wir wollten. Aber die Geschäfte waren geschlossen. Da war ein McDonald's, aber auch zu. Und sonderbar still war es. Entsetzliche. Gespenstische. Stille.
Unter den Bahnhofsbögen fanden wir eine dunkle Spelunke. Dort verkauften uns verschobene Gestalten wenige Flaschenbiere zum Mitnehmen. Zu einem horrenden Preis. Aber in einer solchen Situation spielt das Geld keine Rolle.
Dann verzogen wir uns zurück in die Wohnung und verriegelten die Tür. Das war die höchste Zeit. Und wir warteten sie ab.
Was passierte dann?
Sie kennen den Rest. Es ging los. Erst langsam. Dann ein entsetzliches Chaos. Der Lärm, die Körper, die Schreie. Es war nicht auszuhalten. All das nun ist in meinem Kopf und wird ihn nicht mehr verlassen. Niemals wieder.
Und als es vorbei war?
Da war es vorbei. Darüber spreche ich nicht. Schlimm war es. Die Wohnung, das Studio, alles verwüstet. Über den Balkon, über die Fenster sind sie hineingekrochen, eingebrochen. Durch den Briefkastenschlitz haben sie sich gegenseitig gezwängt und alles zermalmt und verdreht mit ihren Körpern und ihrem Scharfsinn. Wir erkennen nichts wieder und wollen nichts mehr gebrauchen.
Sie können von großem Glück reden, dass Sie noch leben, wissen Sie? Das haben Sie allein Ihrer bemerkenswerten Intuition zu verdanken.
Das weiß ich, aber wissen Sie Folgendes: Ich war aufgewacht an diesem Tag, wie an jedem anderen Tag, und der Morgen war wie einer von vielen, ein wenig schöner als die meisten, nun wird mich die Erinnerung und was passiert ist, nie wieder schlafen lassen.
Kam es Ihnen niemals in den Sinn, dass auch Sie Ihr Leben verlieren könnten?
Nein, niemals.