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© Ayumi Rahn | ayumi-rahn.de

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Peinliches Schweigen

(Interview)

Und?
Was soll ich sagen. Es geht schon. Es wird ja langsam wärmer.
Die Sonne scheint, der Schnee ist getaut, die Menschen trauen sich aus ihren Häusern. Ich denke, insgesamt kann man sich nicht beschweren.
Heute Morgen war die Straßenreinigung endlich da und hat den ganzen Dreck weggeräumt. Streusteine, den ganzen Mist, der einem immer in den Schuhsohlen hängen bleibt. Knospen, Vögel, Pollenflug, Ozon, alles hat seine Kehrseite, das ist das Leben, nicht wahr?
Ja.
Wie hat man sich beschwert über die Dunkelheit, über Kälte, Heizungsluft. Die verdammte Trockenheit. Sind meine Schleimhäute über längere Zeit trockener Luft ausgesetzt, reizt sie das fürchterlich, ich muss ununterbrochen niesen, meine Nase tropft, Augen tränen. Und die Dunkelheit.
Die Sache ist, es gibt eine Menge Gründe, sich nicht mehr zu bewegen, weil es eben so kalt ist. Man hat ja keine Lust, ständig und ununterbrochen zu frieren, zu frösteln, auf nasse Füße und Erkältungen. So bleibt man lieber daheim.
Man sagt es sich gegenseitig: Sobald es endlich wärmer ist, wenn das Wetter besser ist, gehen wir nach draußen und packen dies an und das und das auch.
Dann machen wir Nägel mit Köpfen, endlich. Und so.
Und man hat sich so sehr daran gewöhnt, sich gegenseitig zu bestätigen, sich zu versichern, dass man es womöglich gar nicht mitbekommen hat, dass auf ein Mal die Sonne scheint und die Vögel zwitschern.
Und wenn die ersten Knospen sprießen und der Dreck verschwunden ist, da fällt es einem auf, wie Schuppen von den Augen. Und man ruft: Los, raus, komm, packen wir es an. Aber das ist schwieriger als gedacht. Über das Leid hat man womöglich vergessen, was man vorhatte, da draußen. Was war das nochmal? Was wollte man machen, ohne zu frieren? Worüber wollte man sich Gedanken machen, wenn man nicht mehr ununterbrochen niest?
Man wundert sich, und man schiebt es auf die Vögel und das Gezwitscher. Waren die immer so laut? Das weiß man nicht mehr. Dann liest man es in der Zeitung oder sieht eine Dokumentation, dass die Vögel in der Stadt laut sein müssen, um sich gegenüber dem Straßenlärm, dem unsagbaren Gedöns zu behaupten. Setzen sie sich nicht durch, akustisch, machen sie nicht auf sich aufmerksam, finden sie keine Weibchen und werden sich nicht fortpflanzen. Das hat Folgen für die Stadt und das Leben und vor allem für die Vögel und man fragt sich, was kann man unternehmen, damit sich die Vögel nicht mehr die Seele aus ihrem winzigen Leib schreien, man mag es nicht mehr hören, das ständige Gezwitscher. Aus schlechtem Gewissen würde man liebend gerne darauf verzichten, ständig das Auto zu nehmen, um schlicht von A nach B zu fahren. Wenn man denn ein Auto hätte. Wenn man überhaupt einen Führerschein hätte.
Aber man hat ein Fahrrad. In dem Gebüsch, das neben dem Fahrradständer wächst, an dem man sein Fahrrad abgesperrt hat als es zu kalt zum Fahrradfahren war, da sitzen nun Spatzen und Spatzen übereinander und sind so laut und so eintönig laut, dass man am liebsten davonfahren möchte. Nun, dazu besitzt man sein Fahrrad, und so fährt man denn los.
Über der ganzen Aufregung hat man aus den Augen verloren, wohin man fahren möchte. Allein, man stellt fest, man friert nicht trotz Fahrtwind. Das nimmt man gerne als Zeichen und deutet es als gut.
In den Cafés sitzen Menschen neben Menschen, in dieser Anzahl lange nicht gesehen. Ein Café neben dem anderen. Sie sitzen draußen und unterhalten sich, so laut, dass man sich fragt: Hängt das auch mit den Vögeln zusammen? Bloß: Diese Menschen verdienen kein Mitleid, wegen ihnen würde man das Auto ruhig weiterhin fahren. Sie piepsen nicht mit letzter Kraft, sie schwatzen wohlgenährt und kräftig aus vollen Lungen und sie lachen. Das eigentlich findet man in Ordnung und möchte ihnen nichts Schlechtes wünschen.
Denn die Welt scheint in Ordnung, zumindest der Kaffee.
Es hat nicht alles aufhört. Es ist nichts Schlimmes vorgefallen. Es gibt nichts zu betrauern, zumindest nichts in diesem Café.
Weiter fährt man, tritt in die Pedale, biegt an der Kreuzung links ab, wo man letztes Jahr links abgebogen ist, biegt rechts ab, wo man letztes Jahr rechts abgebogen ist. Man fährt geradeaus, wo man im letzten Jahr geradeaus gefahren ist. Irgendwann kommt man an, wo man im letzten Jahr angekommen ist. Und man fragt sich: um Teufels Willen! Hat man sich eben darüber gewundert? Wie blöd kann man sein?
Dann fährt man den Weg wieder zurück. Wenn man ehrlich wäre, würde man es nicht schlecht finden, wenn es inzwischen dunkel wäre, aber man war nie ehrlich. Man würde zu Hause angekommen und dem Nachbarn kurz kopfschüttelnd in die Augen sehen und er wüsste Bescheid: „Die eisige Kälte!“ Man würde die Tür hinter sich schließen und sich in eine Decke einwickeln, und an die Sonne denken. Man würde sich ausmalen, was man machen könnte, wenn man nur die Möglichkeit hätte.
Aber die Sonne scheint und so sieht man dem Nachbarn in die Augen und lächelt, fügt vorsichtig hinzu, etwas wie: „Endlich Frühling.“ Damit sich der Nachbar nicht irgendwas denkt. Und während man „Frühling“ sagt, wundert man sich über die eigene Stimme, wie komisch sie klingt, und man fragt sich, hat der Nachbar auch gemerkt, dass etwas nicht stimmt, mit der Stimme, mit dem Frühling. Man fragt sich, ob man diesen Menschen überhaupt jemals zuvor angelächelt hat.
Das Frühlingserwachen.
Wie meinen Sie das?
Egal.
Ich weiß, ich verallgemeinere. Ständig sage ich man, man, man, und weiß doch gar nicht, was in anderen Menschen vorgeht. Im Grunde genommen sind wir alle allein. Individuelle Wesen mit individuellen Gefühlsregungen, individuellen Wahrnehmungen. Sie haben vollkommen Recht. -
Dieses Frühlingsempfinden ist bei mir mit komplexen Stimmungen verbunden. Sicher, es gibt Menschen, für die ist der Frühling einfach nur schön. Die gehen einfach raus und genießen das Leben. So ist es bei mir leider nicht.
Ich wollte Sie nicht kritisieren.
Welcher Film heute auch in die Kinos kommt, wer geht bei solchem Wetter ins Kino? Die Menschen sitzen doch lieber im Biergarten und hören die Vögel krepieren. Wissen Sie, ich mag die kalte Jahreszeit nicht. Kälte lähmt. Wenn man ständig friert, vergeht einem die Lust auf alles. Aber wenn der Winter ein wenig wärmer wäre, ein wenig frühlingshafter, lachen Sie nicht, dann wäre das meine Jahreszeit. Das unterschreibe ich Ihnen sofort. Vielleicht bin ich auch ein Vogel. Nein, das war ein Witz, ein dummer Witz. Ich weiß ja auch nicht.
Viel scheint Ihnen auch nicht einzufallen. Manchmal ist es so, das Wetter macht einem einen Strich durch die Rechnung.
In unserer aller Vorstellung ist der Frühling ja eine Erlösung, das sage ich jetzt nur so, aber kulturgeschichtlich untermauern ließe sich das bestimmt. Fühlen sich die Christen nicht an Ostern erlöst? Und Ostern liegt nun mal im Frühjahr. Zufall?
Auf alle Fälle werde ich mir dieses Jahr neue Balkonstühle anschaffen. Ist es nicht schade um einen Balkon, wenn man ihn nicht nutzt, muss man sich immer im Zimmer verkriechen?
Manchmal denke ich mir: Ist es nicht merkwürdig, dass es nie passiert, dass ein Vogel tot vom Himmel fällt? Passiert das etwa? Müsste das nicht ab und zu vorkommen? Wenn sie sich so überanstrengen. Kommt das vor? Auch in unseren Breitengraden? Das wäre ja nun auch nicht ungefährlich. Wie viel wiegt ein Vogel? Wenn der einem aus großer Höhe auf dem Kopf fällt. Sachen sind schwerer, wenn sie aus großer Höhe fallen, oder nicht?
Man soll sich kein Schreckensszenario ausmalen. Wobei, ich frage mich, ist es nicht komisch, dass es Schreckensszenario heißt? Ich meine Szenario. Die Szene, die Szenerie. Szenario. Gibt es das Wort? Das Wort Szenario? Das klingt doch italienisch, nach Oper. Stammt es da her?
Apropos Schreckensszenario: Manchmal stelle ich mir vor, mein Balkon würde mit einem Mal abbrechen und hinunterstürzen. Aus Beton ist der, du meine Güte, wie schrecklich wäre das denn? Überleben würde man das nicht, auf keinen Fall, aber denke ich nicht, dass einen der Beton erschlagen würde. Einen Passanten könnte es treffen, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort, der Arme. Aber man selbst darunter begraben, glaube ich eher nicht. Betonbrocken sind dann doch schwerer. Um einiges. Da landet man eher darauf. Bricht sich das Genick. Insofern wäre es wohl egal, meine ich. Eine fürchterliche Fantasie.
Im Winter hatte man ja ganz und gar vergessen, dass da überhaupt ein Balkon ist, hinter der Balkontür. -