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Schuld

(Interview)


Wir haben recht viel in Sie reingesteckt. Wissen Sie das?
Ja, ich weiß das.
Haben Sie eine Ahnung, wie viel in Ihre Entwicklung investiert wurde.
Ich würde die Erwartungen gerne erfüllen.
Warum erfüllen Sie sie nicht?
Ich weiß es nicht, es geht nicht.
Es ist Ihnen sicher bewusst, wie viel für Sie geleistet haben?
Das weiß ich doch.
Welche Opfer es gekostet hat.
Ja.
Wenn Sie sich ein bisschen anstrengen könnten!
Es geht nicht. Ich kann die Erwartungen nicht erfüllen. Es tut mir leid.
Aber es muss etwas von Ihnen kommen. Unsere Anstrengungen müssen sich irgendwann bezahlt machen.
Ist das eine Regel?
Versteht sich das nicht von selbst?
Ich verstehe das nicht.
Lernen Sie bitte, bestimmte Dinge zu akzeptieren.
Aber das mache ich doch.
Verstehen Sie überhaupt, was ich sage?
Ja, ich denke schon.
Ich habe nicht den Eindruck. Sie machen doch, was Sie wollen.
Das stimmt nicht. Ich weiß nicht, was ich will.
Neulich sah ich einen Menschen im Park, der kam mir immer entgegen, -
Was soll das heißen? Er kam mir immer entgegen. Kam er Ihnen entgegen? Kam er Ihnen nicht entgegen? Was heißt „immer“?
Wenn ich laufen gehe, laufe ich immer mehrere Runden. Ich laufe mehrere Runden, immer wenn ich laufe. Er ist die Runden andersrum gegangen, in die andere Richtung.
Deswegen habe ich gesagt, er kam mir „immer“ entgegen. Ich wollte damit sagen, dass er mir in jeder Runde einmal entgegen kam. Während ich ihm in einer seiner Runden zweimal oder gar dreimal entgegen lief.
Ich dachte, man könnte das so ausdrücken.
Jetzt weiß ich wenigstens, was Sie meinen. Aber was erzählen Sie mir davon?
Ich versuchte, ihn zu ignorieren. Ich versuche, niemandem in die Augen zu sehen. Das versuche ich, immer zu vermeiden.
Und weiter?
Irgendetwas an ihm störte mich.
Und weiter?
Ich weiß nicht, was mich störte oder warum?
Was erzählen Sie mir das?
Das ist doch - wie soll ich es sagen. Wenn einen jemand stört, also, wenn jemand einen dadurch stört, dass er einem entgegen kommt. Wenn das Entgegenkommen von einem an sich einen stört. Ohne dass man ihm in die Augen sieht. Soll man sich dann denn nicht überlegen, was der Grund dafür ist?
Meinetwegen, überlegen Sie es sich.
Sehen Sie, aber ich komme nicht darauf. Ich denke nach, und ich denke nach. Ich grübele schon den ganzen Tag. Ich rufe mir das Bild vor Augen, immer wieder, was nicht geht, denn ich habe ihn nicht angesehen, nur aus den Augenwinkeln und von weitem.
Meinen Sie, man kann sich von jemandem gestört fühlen, den man nur aus den Augenwinkeln und von weitem gesehen hat, als man ihm entgegen und an ihm vorbeigelaufen ist?
Aber Sie sind doch einige Male an ihm vorbeigelaufen, das haben Sie doch gesagt.
Trotzdem.
Ist das so wichtig?
Ich denke, man sollte versuchen, Klarheit darüber zu erlangen, warum man eine Störung empfindet, manchen Menschen gegenüber. Auch ein Gefühl kann ungerecht sein.
Vieles läuft im Unterbewusstsein ab. Man hat keinen großen Einfluss darauf. Gerade im Frühling sind so manche Pheromone unterwegs. Botenstoffe, da kommt es schon mal zu einer Verständigung, selbst wenn man nur an einem vorbeiläuft.
Das ist ja eklig.
So ist es eben.
Furchtbar.
Zurück zu dem, was ich sagen wollte. Versuchen Sie bitte, ein wenig mehr aus sich herauszuholen. Ist denn wirklich alles umsonst gewesen? Alle Investitionen?
Bitte, wenn Sie reden, versuchen Sie, nicht die Wörter zu verschlucken. Atmen Sie langsamer, atmen Sie schneller, ich weiß es nicht, egal. Was wir in Sie reingesteckt haben! Damit Sie die Wörter verschlucken?
Beim Laufen: Versuchen Sie, nicht zu stolpern. Einmal über eine Strecke von, sagen wir mal, 500 Metern nicht zu stolpern. Das muss möglich sein. Ich mache Ihnen das gerne vor, wenn Sie meinen, das bringt was. Schauen Sie sich Ihre Fußhaltung an. Was wir in Ihre Koordinationsfähigkeit gesteckt haben! Ist das traurig. Man rechnet sich alles durch, und dann sieht man sich das Ergebnis an. Tragisch. War alles umsonst?

Noch einmal kurz zu dem Mann, der mir immer entgegenkam. Der mir jede Runde einmal entgegenkam. Ich weiß nicht, ob das an den Pheromonen lag. Es war so selbstgefällig, wie er gegangen ist. Das ärgert mich am meisten. Seelenruhig und selbstzufrieden. Und doch so, als ob er Zustimmung benötigt. Gerade so, als ob er es, wenn man ihm keine Zustimmung gäbe, auf einen schieben würde. Anstatt den Fehler bei sich zu suchen.
Obwohl er doch ganz genau weiß, dass der Fehler bei ihm liegt, schon immer bei ihm lag und er keine Zustimmung von den Leuten verdient. So genau kann ich das nicht sagen, weil ich ihn nicht angeschaut habe.
Das kann ja alles sein.
Ich finde das schrecklich.
Ich finde, sehen Sie, Sie müssten unbedingt üben, Ihren Gesichtsausdruck zu kontrollieren. Hier, schauen Sie bitte in den Spiegel, wie dumm Sie aus der Wäsche gucken. Was nutzen teure Kosmetik und Massagen. Ein wenig Arbeit, Mitarbeit, wird von Ihnen erwartet. Sonst wird das nichts.
Denken Sie bitte nach, bevor Sie den Mund öffnen. Wie viel haben wir in Ihre Bildung investiert. In Ihre Bildung allein wurde ein kleines Vermögen gesteckt.
Und doch, wenn Sie den Mund aufmachen, kommt selten etwas Intelligentes, Anspruchsvolles. Etwas, das die Leute aufhören lässt. Gar nichts kommt. Nur diese primitiven, dummen Ansichten. Diese nutzlosen Kommentare. Vielleicht sollten Sie besser mehr schweigen.

Das mache ich gerne, wenn Sie das vorschlagen. Mir ist es auch unangenehm, und tut mir leid. Ich möchte nicht, dass alles umsonst in mich reingesteckt wurde. Es ist mir selbst unerklärlich, wo es geblieben ist.
Sehen Sie, wie Sie die Schultern hängen lassen? Ich meine, selbst wenn Sie den Mund nicht öffnen. Da, sehen Sie! Was für einen Eindruck Sie machen? Grund erbärmlich. Hat alles nichts gebracht?
Jetzt bin ich aber geradegestanden. Ich habe mich wirklich bemüht.
Bin gestanden? Habe gestanden! Sehen Sie, und die Anstrengung ist Ihnen förmlich ins Gesicht geschrieben. Schauen Sie sich diese Fratze an!
Ich habe doch nur das eine Gesicht.
Wenn es denn möglich wäre, würden wir wohl in ein neues Gesicht investieren. Nur, dass selbst das wertvollste Gesicht bei Ihnen nicht in guten Händen wäre. Sie ruinieren doch alles. Alles richten Sie zugrunde.
Ich wünschte trotz allem, wir könnten Freunde bleiben.
Was sagen Sie denn jetzt schon wieder? Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen?
Wie naiv Sie sind, das ist peinlich. Was in Ihre Aufklärung gesteckt wurde! Und Sie kommen mit einer derart platten Attitüde? Das ist wirklich schlimm.

Das war doch gar nicht ernst gemeint.
Was alles müssen wir noch in Sie reinstecken, damit Sie sich wenigstens unterhalten können?
Ich frage mich selbst auch, wie alles so schief gehen konnte. Ich habe immer das Gefühl, ich gebe mein Bestes.
Ich sage Ihnen etwas: Dieses Gefühl hat der Typ, der Ihnen immer entgegen kam, auch.
Oh nein.