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© Ayumi Rahn | ayumi-rahn.de

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Ausschlachtung

(Interview)

Hört er schon wieder auf?
Aber er hat noch gar nicht angefangen!
Das ist so irritierend.
Irritationen sind wertvoll. Auch was die Kommunikation betrifft, nicht zu verachten. Äußern Sie sich nicht abfällig. Unterschätzen Sie Irritationen nicht.
Jetzt drehen Sie mir die Worte im Mund herum.
Welche Worte?
Meine Worte.
Die haben Sie doch verschluckt.
Warum diese Spitzfindigkeit?
Was heißt Spitzfindigkeit?
Dass Sie in ärgerlicher Weise kleinlich sind.
Hören Sie auf. So läuft es doch im Grunde genommen immer. Das Erzählte erschöpft sich und lässt das Nicht-Erzählte erzähltermaßen zurück.
Sind Sie erschöpft?
Schon, ästhetisch durchaus.
Das sind doch nur Geschichten.
Ernste Geschichten.
Verstehen Sie nicht: Würden Sie schweigen, würden Sie sich auf den Angesprochenen reduzieren. Zu dem, was Sie in meinen Worten sind. Aber Sie, Sie sprechen immer zurück.
Bleiben Sie doch bei der Sache.
Ich blicke Sie an. Das macht Sie in meinen Augen zu dem Angeblickten von meinen Augen, vor meinen Augen reduziert Sie das zu dem, was Sie in meinen Augen sind. Sie aber, Sie blicken immer zurück, durchbrechen die Transzendenz -
Sie sind völlig übergeschnappt.
Ein Stein kann nicht fliegen, und doch fliegt er, wenn man ihn wirft. Ich bitte, das zu bedenken.
Gott, was hat das damit zu tun.
Was hat das damit zu tun? Nun sehen Sie schon raus aus dem Fenster, und was sehen Sie da? All die Menschen auf der Straße, die gehen hin und her und sind am Leben!
Aber das ist doch eine Selbstverständlichkeit.
Ja, aber warum werden die Straßen nach Toten benannt?
Man muss sie doch benennen.
Warum denn? Warum nicht nach einem wichtigen Datum, es gibt so viele? Wie alt ist die Welt denn bitte? Da gäbe es doch einige Daten, vor Null, nach Null, das wäre konsequenter.
Die Straße des 17. Juni.
Ich bitte Sie.
Ihre Gedankengänge sind mir zu kompliziert.
Sind sie das? Sind sie das wirklich? Dabei sage ich nur rund zwanzig Prozent dessen, was ich Ihnen eigentlich sagen könnte. Das sind circa zehn Prozent dessen, was ich weiß. Wobei ich nicht mehr als zehn Prozent meiner Gehirnkapazität nutze.
Dann sagen Sie mir nur zwei Prozent?
Woher wollen Sie denn das wissen?
Sie haben es doch eben gesagt.
Dann formuliere ich Ihnen hiermit weitere fünf Prozent: Es gibt keine Zufälle höheren Grades.
Worüber reden wir überhaupt? Das hat doch mit nichts was zu tun.
Mein Freund, Freud sagt: Wenn es der Sinn von Träumen ist, den Sinn eines Traumes zu entstellen, dann ist der Traum ein Text, der nicht verstanden werden will.
Na und?
Wenn es der Sinn von Texten ist, den Sinn eines Textes zu entstellen, dann ist der Text ein Traum, der nicht verstanden werden will. Bitte wenden Sie das auf sich selbst an, wie wäre es damit?
Warum auf mich, was habe denn ich damit zu tun?
Eine Bibliothek besteht nicht aus Büchern, sondern aus Wissen, Sie Dummkopf.
Was sind Sie denn so gemein?
Dann erzählen Sie mir doch bitte ein Wort über Verwandlung.
Über Verwandlung?
Nur keine Scheu!
Aber was?
Haben Sie nie Angst davor, ein Wort zu verlieren!
Mir fällt nichts ein.
Gut. Dann verraten Sie mir: Liegt es im Bereich des Möglichen, dass sich ein Bild, ein Gemälde in Geld verwandelt. In Geldscheine, nicht in Kleingeld. Also nicht: jemand bezahlt Geld für ein Bild, und dann ist beides da, Geld und Gemälde, wenn auch selten am gleichen Ort- ich möchte wissen: ist eine wahre Verwandlung möglich. In der Gestalt, dass, wenn das Gemälde nach seiner Verwandlung nicht mehr vorhanden wäre, weder hier noch dort existent- wie viel Geld wäre dann insgesamt da? Reingewinn, brutto?
Das kann ich nicht beurteilen, was soll das denn?
Na, das wäre doch toll.
Wie kommt es, dass so viele Menschen unzufrieden sind mit ihrem Leben, aber nur so wenige unzufrieden sind mit ihrem Verstand.

Mit meinem Verstand?
Mein Gott!
Ich weiß es nicht.
Alle sind sie mit ihrem Glück unzufrieden, alle beneiden sie fremdes Glück. Alle loben sie das Gestern, alle loben sie das Dort. Das Vergangene scheint besser, das Entfernte höher-
Das ist wirklich kein origineller Gedanke. Das ist ein alter Hut.
Sehen Sie?
Das macht doch keinen Sinn. Was wollen Sie mir damit sagen, was hat das überhaupt mit mir zu tun?
Nun, kurz, ich möchte Ihnen raten: Formen Sie aus Ihren Armen und Händen ein Nest und legen Ihren Kopf hinein.
Das tue ich gerne.
Sehen Sie, genau so.
Sind Sie schon eingeschlafen?

Noch nicht.
Im Erzählten ist das Nicht-Erzählte stets präsent, das gilt es zu beachten.
Geben Sie mir noch etwas Zeit.
Zeit ist bloß eine Regel der Grammatik. Doch benennt die Kognitionswissenschaft den Modus der Gegenwart mit drei Sekunden.
Schön langsam werde ich müde.
Wissen Sie, bisweilen kommt mir dieser Gedanke: die meisten Dummen sind doch wirklich so dumm, dass sie es nicht einmal bewerkstelligen, ein kluges Geschenk für einen Klugen auszuerwählen.
Jetzt bin ich wieder wach, warum sagen Sie denn so etwas Gemeines?
Ach.
Ich finde, Sie sollten sich einmal überlegen, was Sie sagen, die ganze Zeit. Hören Sie sich einmal selber zu!
Was meinen Sie, wie viele Leben es schon gerettet hat, dass die Schuld auf jemanden anderen verschoben werden konnte. Halten Sie die Verschiebbarkeit der Schuld auf andere etwa nicht für heilvoll? Sind Sie dagegen, dass Leben gerettet werden?
Auf so etwas lasse ich mich nicht ein. Da möchte ich mich nicht einmischen.
Einmischen - Raushalten. Sprechen - Verschweigen. Verstecken - Finden. Zeigen - Verheimlichen.
Ich habe Angst vor Ihnen.
Die Angst hat Ihren Sitz nicht im Anderen, sondern in der Ähnlichkeit, die wir mit ihm haben.
Wenn es das jetzt mit ihm gewesen wäre, und wenn wirklich nichts mehr dazu käme, was könnten wir dann noch über ihn bemerken?
Nun, wir könnten darauf hinweisen, dass er so berühmt war, wie er heute unbekannt ist. Oder schlicht: Er hatte ein schweres, bewegtes Leben und starb in geistiger Umnachtung.
Ja, das passt sehr gut, ich danke Ihnen.